Auflösung des Rätsels um die merkwürdigen "Pilze" von Lasius fuliginosus.
Jetzt muss ich endlich die abenteuerliche Geschichte zu den Rätselbildern posten!
Angefangen hat es am 1. April 2021, als mir Herr Dr. Heller die Bilder zusandte, ausdrücklich nicht als „Aprilscherz“!
Die pilzähnlichen Gebilde befinden sich in einer elektrischen Anlage nahe einer Straßenbrücke. Via Autobahnmeisterei und zuständigem Autobahnbauamt gelangte die Meldung über
Umwelt- und Naturschutzbehörden zu Dr. Heller. Das „Nest“ sollte umgesiedelt werden, da die Tiere Kurzschlüsse auslösen könnten. Die Köderdosen hatten scheinbar nichts gebracht.
Ich (
Merkur) war skeptisch und schrieb Herrn Heller:
Danke für diese spannende Geschichte! Ich muss aber sagen, dass ich trotz Ihres Dementis doch eher an einen (April-)scherz glaube, evtl. von dritter Seite?
Der Pilz erinnert zu sehr an die Fruchtkörper gewisser Baumpilze!
Mein "Rezept": Man hat einen Ort, an dem eine L. fuliginosus-Straße entlang einer Wand verläuft. Man schneide ein paar trockene Baumpilze ab, tränke sie in Zuckerwasser und lege sie nahe der Lasius-Straße aus. Köderdosen als Deko dazu. Jetzt im beginnenden Frühjahr (22.3.21) werden sich die Ameisen darauf stürzen.
Auch der Plan einer Umsiedlung der L. fuliginosus kommt mir zu abenteuerlich vor, und wenig aussichtsreich! Ggf. sollte man auf der Unterseite der Pilzschichten Poren finden.Dr. Heller: ... ein Aprilscherz s. str. ist es sicher nicht. Die Anfrage landete bei mir am 29. März, und zwar über das Naturschutzreferat …. usw. …. Geht man davon aus, dass dies alles seine Zeit dauerte, dürfte der Ausgangspunkt einige Tage weiter zurückliegen. Ich glaube nicht, dass am Anfang der Kette ein Witzbold bei der Autobahnmeisterei ... stand, der sich überlegt hat, wie er vielleicht die Naturschutzbehörden veräppeln könne, und fremde Personen könnten sicher nicht den Stromkasten öffnen, um ein solches Fake zu arrangieren. Zudem wären dafür auch einige Erfahrungen und Grundkenntnisse im Umgang mit Ameisen erforderlich.
Die Umsiedlung kommt mir auch wenig aussichtsreich vor. Man hat mir sogar den Namen des Umsiedlers genannt.…
MerkurDas ist ja eine tolle Geschichte! - Nestwärme: Mir ist nichts über evtl. Temperaturmessungen bekannt! Ich denke, Seifert (2018) hätte das auf jeden Fall erwähnt. Bei einer solchen Masse von Tieren könnte man auch an eine gewisse Erwärmung durch den Stoffwechsel denken, zumal wenn etwa Larven dort aufgezogen würden.
Seifert (2018) erwähnt auch (als unpublished) eine Nestkonstruktion in baumlosem Habitat, ohne erreichbares Holz, enthielt keinen Karton mit Ascomyceten. Stattdessen waren sehr dünne Kammerwände aus zusammengeklebten Bodenpartikeln vorhanden.
Ich denke, dass „Ihr“ Volk sekundär in den Raum gezogen ist.
Noch ein Gedanke: Könnte es einfach ein Winternest sein? Wann entstanden die Bilder?
Und waren Larven in den „Pilzen“?Ich habe noch empfohlen, die Geschichte in der „Ameisenschutz aktuell“ zu veröffentlichen, und bat um die Genehmigung, darüber hier im AP berichten zu dürfen, unter Angabe der Herkunft der Informationen.
Dr. Heller:„...die Bilder sind sicher in der zweiten Märzhälfte entstanden. Ich erhielt die Anfrage am 29. März. Ich schätze mal, dass es bis zu einer Woche gedauert haben könnte bis die Nachricht über die verschiedenen Stationen bei mir angelangt ist. Zur Frage nach dem Winternest: für die riesige Kolonie wären die beiden Bauwerke viel zu klein gewesen, es sei denn dass die Arbeiterinnen in der Winterruhe sich wie eine Schwarmtraube darauf angesammelt hätten. Oder die Kolonie verfügte doch noch außerhalb über ein Hauptnest….
sollten doch zehntausende fuliginosus-Arbeiterinnen in der Lage sein, das auch in kurzer Zeit zu bewältigen. Ich halte es daher für möglich, dass Baubeginn der "Pilze" erst im letzten Frühjahr/Sommer war. Larven sind mir in den Leichenbergen der Arbeiterinnen aufgefallen.
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Dann kam am 21.April die vorläufige Aufklärung. Herr Heller konnte sich die Sache selbst ansehen:
Dr. Heller:Es handelt sich nicht um Fruchtkörper eines Pilzes, sondern um von den Ameisen errichtete Nestbauten, die innen die typische Kammerstruktur aufweisen…
Der Raum mit den Nestgebilden befindet sich in einem kleinen Gebäude... Der unterirdische Raum wird vom ebenerdigen Hauptraum aus erreicht über einen Schacht mit Eisensprossen und einen kurzen Kriechgang. Der eigentliche Raum ist komplett betoniert oder verputzt. Auf dem einen der Bilder … sind Stopfen, die Bohrlöcher in der Mauer völlig dicht versiegeln. Später sollen wohl Kabel durchgezogen werden. Vor der Mauer liegt etwas Geröll, das anscheinend bei den früheren Bohrarbeiten liegen geblieben war.
Der Weg nach außen für die Ameisen führt wohl über höher an der Mauer gelegene Kabeldurchbrüche.
Es gibt in dem Raum nichts, wo eine primäre Nestgründung hätte stattfinden können, keine Höhlungen oder Holz. Trotzdem enthält das Nestmaterial Holz. Ich habe eine kleine Probe mit einer Gasbrennerflamme angezündet, und es roch sofort nach verbranntem Holz. Die Ameisen mussten demnach Holzteilchen aus dem Freiland in den Raum transportieren, um dort die Nester zu bauen. In die Basis der Nestgebilde waren auch einige der o.g. Geröllteile integriert. Überraschenderweise ließen sich beide Bauten problemlos vom Boden abheben. Sie waren nicht mit dem Betonboden verbunden.
Ansonsten bot sich für den Ameisenfreund ein sehr trauriges Bild. Es liefen zwar noch viele Ameisen umher, auch in und auf den Nestgebilden. Aber der Boden war bedeckt mit Unmassen toter und moribunder Ameisen (oft richtig angehäuft), zweifellos ein Folge der beiden Köderdosen (s. o.g. Foto). Der Köder enthält das hochwirksame Fipronil (0,05 %). Die Köder waren von ... ausgelegt worden, nicht von den später hinzugegezogenen Mitarbeitern ... Letztere dachten, dass das eine exotische Art sein könnte und informierten den Naturschutzbeauftragten des Autobahnamtes. Den Köderdosen wurde keine Bedeutung beigemessen, da ja zu diesem Zeitpunkt scheinbar noch alles in Ordnung war.
Dem ungeheuren Totenfall nach muss die Kolonie weit über 1 Million Individuen enthalten haben. Dies steht in merkwürdigem Kontrast zu den doch relativ kleinen Nestgebilden, die komplett verschwunden wären, wenn man die toten Ameisen über ihnen angehäuft hätte.
An der Außenseite war die Hauswand, wo sich die Nester befanden, auf der ganzen Breite aufgegraben. Die Mauer besteht aus Naturstein. Ameisen liefen an der Außenwand nicht umher. … Das "bizarre" Aussehen der Nestbauten ist wohl nur dem Umstand geschuldet, dass sie völlig frei im Raum errichtet wurden und nicht in irgendwelche Hohlräume eingepasst werden mussten.
Der Kellerraum war sehr kühl und weist sicher während des gesamten Jahres keine großen Temperaturschwankungen auf. Ein "gemütliches" Mikroklima ist das wohl nicht. Aber
L. fuliginosus wurde schon öfter in ähnlich kühler Umwelt angetroffen, lt. Stitz in einer Gruft und in einem Kindersarg, der bereits 20 Jahre in der Erde gelegen hatte. Brutaufzucht dürfte unter solchen Bedingungen doch nur möglich sein, wenn die Masse der Arbeiterinnen im Nest für eine höhere Temperatur sorgt.
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Merkur: Nun bin ich ziemlich überzeugt, dass es sich um ein Überwinterungsnest der Ameisen handelt. Wie Dr. Heller schon sagt, müssen die Ameisen Holzpartikel dorthin gebracht haben. Da es seit Herbst 2020 bis März 2021 keinen Honigtau gegeben haben kann, sollten die Bauwerke bereits im letzten Jahr angelegt worden sein. Wie bei Lasius üblich, haben die Tiere mit Larven überwintert. Die eigentliche Brutaufzucht erfolgt sicher im Sommernest, etwa in einem hohlen Baumstamm. Bemerkenswert finde ich auch, dass bei den Köderdosen noch lebende Ameisen vorhanden waren (neben den erwähnten Unmassen toter Tiere). Ich möchte annehmen, dass die Giftköder nach einiger Zeit aufgebraucht waren, so dass nicht alle Ameisen abgetötet werden konnten.
Es ist jedenfalls wieder mal eine spannende Geschichte, die zeigt, dass wir auch über die so gut untersuchten einheimischen Ameisenarten noch längst nicht alles wissen, dass sie uns doch immer wieder überraschen können!
MfG,
Merkur